
Das Buch der Widersprüche
Die Bibel ist ein Buch der Widersprüche, der schroffen Kontraste. Sie eignet sich nicht als Buch der Antworten oder der Tröstungen. Wer sich ihr mit diesen Erwartungen nähert, wird von ihren Widersprüchen frustriert. Die Bibel ist ein Buch der Geschichten. Alle ihre Teile, auch die poetischen, die prophetischen, die Briefe, die Gesetzessammlungen sind in Geschichten eingewurzelt. Der Romancier Milan Kundera meinte, dass für ihn der Sinn des Erzählens darin bestünde, Fragen zu stellen, nicht Antwort zu geben. Dieses fragende Wesen tragen alle Geschichten in sich, also auch die Bibel. Die Bibel ist fragwürdig. Aber nach was fragt sie?
Die Geschichte einer Beziehung
In den Mythen der Antike, der Epoche, in der auch die Überlieferung der Bibel ihren Anfang nahm*, wird der Mensch als ein Ergebnis der Schöpfung, als Teil des Weltengeschicks charakterisiert. Die nordische Mythologie erzählt von zwei unbelebten Stücken Treibholz, Ask und Embla, denen die Götter Verstand, Seele und Leben zuteil werden lassen. In der griechischen Theogonie wird geschildert, wie der Titan Prometheus die Menschen erschuf, dessen Lieblinge sie waren und dessen Schicksal sich mit dem seinen verband. Das babylonische Enuma Elish begreift den Menschen als Zweckschöpfung, weil er erschaffen wurde, die Mühsal der Götter zu tragen. Die Genesis charakterisiert den Menschen als Gegenüber, als Ebenbild Gottes. Der Mensch ist ein Geschöpf der Beziehung. Die Geschichte dieser Beziehung entfaltet die Bibel in all ihren Dimensionen, in all ihren Fragwürdigkeiten. Mehr noch, die Bibel macht einen in dem Augenblick zum Gegenüber, da man sie aufschlägt. "Wenn du fragst 'Was ist das für ein Buch?', "schreibt Thomas Merton,"wirst du feststellen, dass du in gleicher Weise gefragt wirst: 'Wer bist du, der da liest?'"*
Natürlich kann man sie lesen als wäre die Bibel ein Objekt, das ich als Gegenstand meines Verstandes oder meiner Erwartungen begreife. Doch dem Wesen der Bibel begegnet man so nicht. Wie auch? Welche andere Beziehung hielte solchen Prämissen stand?
*Thomas Merton, Die Bibel öffnen, Zürich 2002, 25.
**Die Bibel greift in ihren Mythen auf altorientalische Vorlagen zurück. Der sumerisch-babylonische Weise Uta-napishti etwa zeigt Parallelen zu Noah. Die Bibel übersetzt diese Mythen jedoch nicht oder sieht sich in deren Nachfolge. Sondern sie passt Personen und Handlung an die hebräischen Glaubensvorstellungen an.
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