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Einüben in sich selbst

  • metuw7
  • vor 7 Tagen
  • 2 Min. Lesezeit


Älterer Herr schaut einem mit ruhigem Blick entgegen.

Kritische Spannung

Joan und Erik Erikson, ein deutsch-kanadisches Therapeutenpaar entwarf eine Theorie der menschlichen Entwicklung, die vom Kindes- bis zum hohen Alter reicht. In dieser Theorie stellten die Eriksons anschaulich dar, dass Entwicklung nie abgeschlossen ist. Neun Reifephasen (später erweiterte Joan Erikson das Modell auf zehn Stufen) durchlebt jeder Mensch.

Eigentlich müsste man im Blick auf die Theorie der Eriksons statt von Entwicklungs- treffender von Entscheidungsphasen sprechen. Denn auf jeder Reifestufe ereignet sich eine Entscheidung, die bewusst oder unbewusst von einem jeden getroffen wird: Ein Kind, das geliebt und versorgt wird, sich angenommen und geführt weiß, entwickelt Grundvertrauen und Offenheit anderen gegenüber. Ein Kind, dem das nicht zuteil wird, wird zu Furcht, Misstrauen und Selbstverurteilung neigen. In jeder Lebensphase, darauf machten die Eriksons aufmerksam, erleben wir diese kritische Spannung, vom ersten bis zum letzten Atemzug.


Bleibende Fragen

Die Gerontologin Naomi Feil nutzte das Entwicklungsmodell der Eriksons, um das Verhalten dementieller Senioren plausibel zu machen. Sie schrieb: "Jedes Lebensalter hat seine ganz bestimmte Aufgabe. Wenn wir sie ignorieren, verschafft sich sich später einen zweiten Eintritt." Naomi Feil glaubte, dass die unpassenden, realitätsfremden Handlungen demenzkranker Menschen Ausdruck dafür sind, sich noch einmal in eine Zeit zurückzubewegen, in der ihr Leben eine entscheidende Wendung nahm.

Alle Phasen des Lebens verlangen nach Antwort und Entscheidungen. Fehlen diese, sammeln sie sich auf und stellen sich abermals. Weder wird dieses Verlangen durch die Zeit gemildert noch verschleiert. Es bleibt bestehen.


Einüben in sich selbst

Und weil es eben bis zum Ende besteht, ist das Lebensende auch die intensivste Zeit, mithin diejenige, in der sich das meiste ändert. Es ist ja gerade der Verlust der eigenen Kräfte, die unbarmherzige Begrenzung, die einen auf sich selbst zurückwirft, weil sie die Möglichkeit nimmt, auszuweichen; nicht einmal die Demenz, wie Naomi Feil erkannte, gewährt einem die Gnade der Selbstvergessenheit.

Das Alter macht einem bewusst, dass das ganze Leben letztlich ein Einüben darin ist, man selbst zu werden. Welches Selbst steht einem gegenüber? Diese Frage stellt sich einem auf jeder Stufe des Lebens: Bin ich geliebt oder unwillkommen? Darf ich sein, wer ich bin oder werde ich verachtet und muss mich meiner schämen? Erreiche ich den anderen oder habe ich nicht einmal mich selbst erreicht?


Naomi Feil, Validation, 3. Aufl., Wien 1992, 19.


 
 
 

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